Anfang September 1998. In Frankreich beginnt ein Prozess gegen 138 mutmaßliche Unterstützer islamistischer Terroristen. In Moskau treffen die Präsidenten Clinton und Jelzin zusammen. In Kalifornien gründen zur selben Zeit der gebürtige Amerikaner Larry Page und der gebürtige Russe Sergey Brin das Unternehmen Google Inc. Ende September geht die Suchmaschine der beiden online. Und in Graz schlägt man im Büro des steirischen herbsts das Kulturmagazin Graz-derzeit auf. Schlagartig ist die gute Laune dahin. Schuld daran bin ich.

Als Chefredakteur dieser monatlichen Kulturübersicht in moderater fünfstelliger Auflage habe ich kurz zuvor dem redaktionellen Stil eine satirische Note beigefügt. Wir berichten seither nicht nur über Veranstaltungen und KünstlerInnen, sondern auch über angeblich bedrohte Wasservögel namens Podiceps cristatus, über das Comeback der Dinosaurier in Graz und in der Ausgabe 10/1998 auch über den von uns erfundenen neuen Shop des steirischen herbsts.

Was es da alles gibt! Das T-Shirt Sackstraße, schon gesehen um 129,90 österreichische Schilling, den Maulkorb „Schädl“ um 219, das Pissoir „Jörg“ um 1290,90 ÖS. Mir persönlich war der Senf „Ricardo“ sehr wichtig, der als Hommage an einen Grazer Medienkünstler zu verstehen war. Die Intendantin hat sich vermutlich sehr über die „Worthülse Christl“ gefreut, die ihr zugedacht war. Das alles gibt es mit einer Bestellkarte zu kaufen. Perfid und hinterhältig, wie wir nun einmal waren, druckten wir die korrekte Telefonnummer und Adresse des steirischen herbsts ab.

Wenn ich mir das heute so durchlese und anschaue, finde ich es immer noch gelungen. Gerade, weil es mit reaktionären Reaktionen auf manche herbst-Aktion spielt und zugleich die Kommerzialisierung thematisiert, die in den zwanzig Jahren danach fast alle maßgeblichen Bereiche von Kunst und Kultur erfasst hat. Auch beim herbst gibt es heute T-Shirts, Kaffeetassen, Schirme, Frisbees und Hängematten mit dem Stempel-Logo. Nur Pissoir gibt es keines im Angebot. Obwohl gerade das vielleicht eine echte Bereicherung wäre für manches kunstaffine Eigenheim.

Damals im Jahr 1998, da gab es beim herbst noch keinen Webshop, sondern gerade einmal eine rudimentäre Website. Und naturgemäß wenig Grund zum Gelächter, zumal etliche Kaufanfragen nach unserem Artikel tatsächlich per Telefon eintrudelten. „Das sind doch Pennälerwitze“, soll die Intendantin dem damaligen Herausgeber des Magazins vorgehalten haben. Er schreckte sich ein bisschen, ließ sich aber nichts anmerken.

Wenn meine Recherchen stimmen, entwickelte Christoph Schlingensief übrigens für genau diese Ausgabe des herbsts seinen „Sandler“-Wettbewerb „Chance 2000 für Graz“, der heftig umstritten war und den ich leider verpasste. Vieles hat sich in den knapp drei Jahrzehnten seither verändert. Schlingensief ist tot. Graz-derzeit auch. Das Internet weitet sich über die gesamte Kommunikation aus. Heute würde so eine Geschichte wie der vermeintliche „herbst-Shop“ einfach zu einem Posting oder Tweet werden und im Idealfall dutzende Mal geteilt werden. Dann würde der Pennälerwitz „viral“ und der Senf von Ricardo Krsko vielleicht zum herbst-Bestseller 2017.

Wolfgang Kühnelt, www.haubentaucher.at
Bilder: Graz-derzeit 1998